Mitglieder- und Vertreter*innen- Versammlungen (im folgenden M/V-Vs) werden abgesagt, Aufsichtsräte bekommen Kompetenzen, die bisher den Mitgliedern vorbehalten waren, Vorstände und Aufsichtsräte können auch ohne Wahl über ihre Amtszeit hinaus im Amt bleiben – Wird die Pandemie zum Totengräber der Restbestände von genossenschaftlicher Demokratie? Wir geben einen Überblick über die Situation und fragen, welche Versammlungs-Möglichkeiten es gibt und wie Genossenschafter*innen aktiv werden können.
Der neue Rechtsrahmen…
Mit dem „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht“ wurden im März 2020 die Handlungsoptionen für Genossenschaften erweitert. Wesentliche Regelungen sind:
– M/V-Vs müssen nicht mehr in der ersten Jahreshälfte stattfinden
– virtuelle M/V-Vs werden auch möglich, wenn dieses in der Satzung nicht explizit geregelt ist
– der Aufsichtsrat kann den Jahresabschluss annehmen
– Vorstände und Aufsichtsräte können nach Ablauf ihrer Wahlperiode im Amt bleiben, bis wieder eine M/V-V stattfindet.
Das Gesetz war ursprünglich bis Ende 2020 befristet, die Laufzeit wurde im Oktober bis Ende 2021 verlängert. Eine kurze Kommentierung der Änderungen findet sich z.B.auf der Homepage des Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e.V. (LINK).
… als Begründung für Nichtstun
Die Berliner Wohnungsgenossenschaften haben von den neuen Möglichkeiten ausgiebig Gebrauch gemacht – vor allem, indem sie die Versammlungen haben ausfallen lassen und Vorstände und Aufsichtsräte die notwendigen Verfahrensschritte unter sich regelten. Häufig beschränkte man sich auf kurze Hinweise auf die Rechtslage, um die Verschiebung der M/V-V zu begründen. Ein Brief, wie der der GeWo-Süd, der zumindest eine ausgiebige Erläuterung lieferte, ist die Ausnahme: „Das ganze Verfahren verursacht einen sehr großen organisatorischen Aufwand. Wir und andere Genossenschaften haben keine Erfahrungswerte damit.“ (LINK)
Einige Genossenschaften haben wenigstens den Versuch unternommen, im Spätherbst eine M/V-V durchzuführen. So hatte die Treptower Park eG eine Präsenz-Versammlung für den 20. November angesetzt, die aber dem November-Lockdown zum Opfer fiel.
Online-Veranstaltungen gab es nur sehr wenige. Zu den Berliner Ausnahmen gehört die DIESE eG, die im September eine reine Online-Mitgliederversammlung mit Vorstandsentlastung, Wahlen und Satzungsänderung erfolgreich durchführte (s. gesonderten Bericht).
Soll das bis Ende ’21 so weitergehen? Nein! Im folgenden sind drei Alternativen mit den entsprechenden Rechtsgrundlagen und Praxisbeispielen kurz umrissen.
1. Die virtuelle Online-Mitglieder-/Vertreter-Versammlung
Auch über Online-Verfahren lassen sich alle Abläufe und Entscheidungen einer M/V-Versammlung gestalten. Eine gute Zusammenstellung der Möglichkeiten und Voraussetzungen bietet eine Broschüre des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbands e. V.: „Mindestanforderungen an virtuelle General-/Vertreterversammlungen“ (LINK). Online-M/V-Vs werden häufig durch einen professionellen Dienstleister organisiert. Für Abstimmungen nutzen die meisten Genossenschaften die Software des Berliner Unternehmens Polyas oder die Software von VOXR
Damit eine Online-M/V-V wirklich transparent abläuft, braucht es eine Vorlaufzeit, in der die Anträge diskutiert werden können. Häufig werden Anträge, Beschlussvorlagen usw. vorher in eine Online-Cloud gelegt, zu der die Abstimmungsberechtigten Zugang haben. Fragen und Meinungen dazu können direkt per Mail ausgetauscht bzw. an Aufsichtsrat oder Vorstand gegeben werden.
Hier sind einige praktische Beispiele aus dem genossenschaftlichen Bankensektor:
Volksbank Eifel eG: „Um die digitale Vertreterversammlung so einfach und sicher wie möglich zu gestalten, eröffneten wir in Kooperation mit der VR-NetWorld GmbH – ein Partner der Genossenschaftlichen FinanzGruppe – als erste Bank der Region ein virtuelles Vertreterportal. Alle erforderlichen Unterlagen wurden vorab eingestellt. Ab dem 29. Juni standen dann die eigentlichen Versammlungsthemen in Form von Videoberichten oder Dokumenten im Portal zur Verfügung. Abschließend erfolgte am 1. Juli die Beschlussfassung durch die virtuelle Stimmabgabe der Vertreterinnen und Vertreter“, so Michael Simonis, Vorstand der Volksbank Eifel eG.
„Die neue, digitale Beschlussfassung war ein großer Erfolg, da sich ein Großteil der Vertreter im Vorfeld digital eingeloggt hatten und an der Abstimmung beteiligt haben. Auch die Möglichkeit, sich im Vorfeld mit Vorstand und Aufsichtsrat per Chat oder E-Mail auszutauschen, wurde intensiv genutzt. Die Beteiligung an der virtuellen Vertreterversammlung lag über dem Niveau einer Präsenzveranstaltung“, berichtet Andreas Theis, ebenfalls Vorstand.
(Quelle: https://www.eifelzeitung.de/allgemein/tagesthemen/digital-und-erfolgreich-die-vertreterversammlung-der-volksbank-eifel-eg-2020-262549/)
Genossenschaftsbank Unterallgäu: „Im Zeitraum vom 15.06.2020 (08:00 Uhr) bis 19.06.2020 (17:00 Uhr) konnten sich die Vertreter über die Inhalte der einzelnen Tagesordnungspunkte virtuell informieren und ihre Fragen über die digitale Plattform „Mitgliedernetzwerk“ stellen. Die Abstimmungen erfolgten nach Durchsicht der Unterlagen durch die Vertreter in geheimer Form mittels einer BSI-zertifizierten Wahlsoftware. Die virtuelle Vertreterversammlung haben insgesamt 86 Vertreter besucht (Teilnahmequote rund 44 %), an den Abstimmungen beteiligten sich davon 76 Vertreter (Abstimmungsquote rund 39 %). „Wir freuen uns über diese Beteiligung und damit die Unterstützung der Vertreter in dieser außergewöhnlichen Zeit. Trotz technischer Herausforderungen konnte die Vertreterversammlung erfolgreich durchgeführt werden.“ so Manfred Rockenfeller (Vorstandsvorsitzender der Genossenschaftsbank Unterallgäu eG).
Quelle: https://www.genobank-unterallgaeu.de/wir-fuer-sie/presse/pressemitteilung/virtuelle-vertreterversammlung.html
2. Die Mitglieder-/Vertreterversammlung (virtuell) im schriftlichen Verfahren
Als Alternative zur Online-M/V-V ist gerade bei Wohnungsgenossenschaften die „Mitglieder-/Vertreterversammlung (virtuell) im schriftlichen Verfahren“ beliebt. Dabei werden Beschlüsse im schriftlichen Umlaufverfahren gefasst, ohne dass eine Versammlung einberufen wird. Dieser Weg ist rechtlich problematisch, denn Mitglieder bzw. Vertreter können weder Nachfragen stellen noch die Beschlussvorlagen diskutieren. Dieses wäre ein Anfechtungsgrund, denn es wäre ein Verstoß gegen die Wahrung der Mitgliederrechte.
Die Genossenschaftsverbände empfehlen daher ein mehrwöchiges Verfahren mit diversen Rückkopplungsschleifen. Ein Beispiel dafür zeigt der Ablauf bei der Hattinger Wohnungsgenossenschaft hwg eG:
3. Die Präsenzveranstaltung
Es sollte nicht vergessen werden: Präsenzversammlungen sind immer noch möglich. Der Verband baden-württembergischer Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V. („Ein Verschieben in das Jahr 2021 wird als „ultimo ratio“ angesehen“) hat eine Handreichung erarbeitet , die einen möglichen Verlauf unter Pandemiebedingungen erläutert. Der vbw: „Alles was nicht unbedingt nötig ist, muss in der Pandemie entfallen. … Sollte die Versammlung tatsächlich ohne Diskussion nach 30 bis 40 Minuten beendet sein, dann hätte dies mit einer Beschneidung der Mitgliederrechte nichts zu tun – vielmehr waren sich dann offenkundig alle einig, dass in der Pandemiezeit eine „Not“-Generalversammlung opportun ist, um das rechtlich Notwendige zu beschließen und Risiken zu minimieren.“ Das Zitat zeigt, wo hier die Gefahr liegt: in der faktischen Einschränkung der demokratischen Prozesse.
Was wir als Mitglieder tun können – ein paar Ansatzpunkte zum Handeln
Was Banken können, können auch Wohnungsunternehmen!
Damit wenigstens in der ersten Hälfte 2021 eine M/V-V stattfindet, müssen frühzeitig – das heißt: jetzt! – die Weichen gestellt werden. Es geht vor allem darum, Wege zu finden, dieses in der Genossenschaft zum Thema zu machen:
– sich sachkundig machen, welche Möglichkeiten es gibt, schauen, was andere Wohnungsgenossenschaften tun
– mit Nachbar*innen über die unbefriedigende Situation diskutieren
– Vertreter*innen, VS und AR befragen, wie sie wann die M/V-V durchführen wollen
Wie immer gilt auch hier für Genossenschafter*innen: UNSERER STRATEGISCHEN PHANTASIE SIND KEINE GRENZEN GESETZT!
Vielen Dank für diesen informativen Artikel!