Das Verfassungsgerichtsurteil vom 15. April, mit dem der Berliner Mietendeckel wegen fehlender Landeszuständigkeit für ungültig erklärt wurde, hat in den Genossenschaften eine breite Diskussion über Nachforderungen ausgelöst. Einige Genossenschaften haben bereits entschieden, auf Nachzahlungen zu verzichten. Neben der 1892 (s. Artikel) gehören dazu die Wohnungsgenossenschaft Neukölln eG und die GeWoSüd.
Die Wohnungsgenossenschaft Neukölln EG (5000 Mitglieder, 4000 Wohnungen) teilte bereits am 20. Mai den Vertreter:innen in einem Rundschreiben mit: „Der Vorstand und der Aufsichtsrat haben zusammen beschlossen, dass die Genossenschaft keine Rückforderungen gegenüber unseren Mitgliedern aufgrund der Verfassungswidrigkeit des Mietendeckels geltend machen wird.“
Die WGN hatte auch Schattenmieten für die Zeit der Geltungsdauer des Deckels vereinbart, angeblich aber nur, um den Schnitt von 6,50€/kalt bei Neuvermietungen zu sichern.
Die GeWoSüd (2600 Wohnungen, 5000 Mitglieder) plant, den Verzicht durch die Mitgliederversammlung legitimieren zu lassen. Zur Begründung heißt es in einem Antrag für die bevorstehende MV: „Vorstand und Aufsichtsrat fühlen sich verpflichtet, soziale Härten für die Mitglieder der GeWoSüd zu vermeiden, dies insbesondere vor dem Hintergrund der vielfältigen Belastungen (Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit etc.) durch die Corona-Pandemie, die viele Mitglieder zu tragen haben.“ Nach Vorstandsangaben sind davon 1735 Nutzungsverhältnisse betroffen, es geht um einen Betrag von 415.000 €.
In dem Antrag wird darauf hingewiesen (und darum wohl die Behandlung auf der MV), dass dieser Verzicht vom Finanzamt als verdeckte Gewinnausschüttung behandelt werden könnte und dann versteuert werden müsste. Dies ist eine gewagte Behauptung. Denn die Absenkung ist durch eine Gesetzesänderung notwendig geworden. Nun auf die Rückforderungen zu verzichten, ist die Abwendung einer sozialen Härte und keine Gewinnausschüttung.
Auch in anderen Genossenschaften wird betont, dass die Wirtschaftsprüfer (die bei BBU-Verbandsmitgliedern vom BBU kommen) mit dem Steuerargument die Genossenschaften drängen, auf Nachforderungen zu bestehen. Das führt zu den absurdesten Begründungen. Aus der Fortuna (4000 Wohnungen, 4000 Mitglieder) wird berichtet, dass der Vorstand den Verzicht auf Nachforderungen als „rechtswidrig“ bezeichnet. Ansonsten müsse der Vorstand die Beträge aus eigener Tasche begleichen. Damit nicht genug: Auch ” Vonovia“ und die städtischen Unternehmen verhielten sich rechtswidrig, so der Fortuna-Vorstand, wenn sie auf Nachforderungen verzichten.
Da die Wirtschaftsprüfer des BBU eine treibende Kraft hinter der Gewinnausschüttungs-Argumention zu sein scheinen, hatten wir GENOSSENSCHAFTER*INNEN am 19.5.2021 den BBU angeschrieben und gebeten, uns mitzuteilen, was seine Rechtsauffassung bezüglich der Steuerfrage ist. Eine Antwort steht noch aus.
Berliner Mieterverein (Foto) und Berliner Mietergemeinschaft bieten auf ihren Webseiten umfangreiche Hinweise zur Problematik der Nachforderungen. Wer kein Mitglied ist, kann sich auch bei den bezirklichen Beratungsstellen kostenlos beraten lassen (infos Hier)
Nach diesen Informationen macht der BBU Druck auf Genossenschaften, Mitglieder schlechter zu stellen. Wenn sich das bewahrheitet – eine Stellungnahme des BBU steht noch aus – wäre das ein Skandal. Es passt sehr gut zu dem Bild eines Artikels aus 2009, der mir heute zugemailt wurde und unter mietenblog.de zu finden ist (siehe Dateianhang „Die Zerstörung der Genossenschaftsidee“) http://mietenblog.de/wp-content/uploads/2010/07/zerstoerung-der-genossenschaftsidee.pdf
Das sind zwei weitere Mosaiksteine in dem großen Bild, dass hier so viel im Argen liegt, dass ein bundesweiter Verband für Wohnungsgenossenschaften gegründet werden sollte ohne gewinnmaximierende Wohnungsunternehmen als Mitglieder wie beim gdw und seine Unterverbänden. Die Schweizer Wohnungsgenossenschaften haben das schon lange so gemacht und ihre Stellungnahmen und ihre Broschüre zur Genossenschaftsidee sehe ich erfreulich nahe am Potential des Genossenschaftsgedankens.
https://www.wbg-schweiz.ch/information/genossenschaftlich_wohnen/was_ist_eine_genossenschaft
Ein solcher neuer Verband sollte eine sehr gute genossenschaftsjuristische Expertise haben, mit einer Leitung, die von der Genossenschaftsidee selbst begeistert ist und sie mit Herz und Verstand vertritt und die Vorstände vor ungebührlichem Druck von Seiten von Wirtschaftsprüfern schützen kann, die gegenüber der genossenschaftlichen Demokratie misstrauisch sind.
An dem Artikel bei mietenblog.de und auch hier wurde für mich deutlich, dass wir einen Verband und insgesamt eine Genossenschaftskultur brauchen, die den Menschen und ihrer Selbstorganisation etwas zutraut und nicht fürchtet, dass selbstorganisisierte Initiativen zu Chaos und endlosem Streit führen. Ein positives Menschenbild kann man nicht verordnen, Überzeugungen sind individuell geprägt und haben oft eine selbstverstärkende Tendenz. Wir alle tendieren dazu, das zu sehen, was wir ohnehin zu wissen glauben bzw. suchen schnell unbewusst nach Informationen, die einmal gewählte Beurteilungen bestätigen. Dennoch bin ich sicher, dass wenn wir respektvoll, offen und konstruktiv miteinander umgehen, immer wieder das direkte offene Gespräch suchen und ermöglichen und uns immer wieder an gemeinsamen Zielen orientieren, das funktioniert.
Wichtige MutmacherBücher sind für mich dazu „Im Grunde gut“ von Rutger Bregmann und „Das kollegiale Unternehmen“ von Bernd Österreich. Speziell zu Wohnungsgenossenschaften darf man sich auch gerne auf meinen Blog umsehen, wo ich immer wieder zu zeigen versuche, dass Wirtschaftlichkeit, Mitgliederförderung, soziales Gewissen und Nachhaltigkeit gut zusammen passen https://liberalundkooperativ.blogspot.com/
Der BBU ist auch jetzt schon keineswegs alternativlos. Es gibt bereits einen anderen Prüfungsverband: PkmG, Prüfungsverband der kleinen und mittelständischen Genossenschaften e.V., pkmg@pruefungsverband.de …. Genossenschaftsvorstände und -Mitglieder müssen einen Wechsel, bzw. eine Mitgliedschaft bei gründung nur wollen. Die „genovo, Genossenschaft für Wohnprojekte“ ist dort auch Mitglied.
Ja, genau, was machen Genossenschaften eigentlich beim BBU? Anscheinend gemeinsame Sache mit Deutsche Wohnen AG oder heißt sie jetzt schon Vonovia AG? Diese verzichten doch nach meinem Kenntnisstand auf Nachzahlungen und haben auch nicht gegen den Mietendeckel geklagt wie die großen Genossenschaften. Ach, es gäbe so viele Möglichkeiten aus diesem Dilemma herauszukommen, wenn alle beteiligten Akteure nur wollen würden. „Die Fridays for Future“ Bewegung macht es doch vor: Klagen vor dem Verfassungsgericht und gegen große Konzerne, setzen sich durch und was tut die Genossenschaftsbewegung? Beschwert sich über die Zustände und schaut ohnmächtig zu. Und wieso ist es in der Schweiz besser? Was machen die anders? Vielleicht weil sie nicht in der EU sind, daran wird es wohl liegen, Ironie aus.
Auch die 1892 eg verzichtet nun auf Nachforderungen – und gibt recht offen zu, dass Vergesellschaftungs-Volksentscheid und stadtpolitische Proteste mit ihrem Druck dafür verantwortlich sind: https://www.genossenschafter-innen.de/2021/10/14/unruhe-in-der-1892-eg-vertreterversammlung-diskutiert-ueber-mietendeckel-und-enteignung/
Himmel, ist das noch aktuell? Es gibt berlinweit nur ganze zwei Genossenschaften, die auf Rückzahlungen nach der Mietendeckel-Kippung verzichten? Oder weiß mensch inzwischen von mehr?